(This blog post has been written in German. To see an English translations, click here)
Heute ist „Brexit“-Tag. Eigentlich. Und was
bedeutet das für dieses Land?
Heute sollten wir aus der EU
austreten, hieß es. Nun also doch nicht.
Als die Briten vor 3 Jahren für ein Referendum an die Wahlurnen gebeten
wurden, war vorher klar, dass das Ergebnis knapp ausfallen würden. Das tat es
dann ja auch (52% zu 48%) – warum es in so einer Entscheidung keine
Zweidrittel-Mehrheit brauchte, wundert mich noch heute. Viele Briten hatten die
Nase voll von der EU, von seiner Bürokratie und Inflexibilität. Die Flüchtlingskrise
hatte ihren Höhepunkt erreicht und es gab Angst vor Überfremdung, die zwar
irrational und unabhängig von der EU war, aber von den sog. „Brexiteers“
wunderbar geschürt wurde. Einem maroden Gesundheitssystem wurde die magische
Transformation zum Besseren versprochen und auch an anderen Stellen wurden der Bevölkerung
Versprechungen gemacht, die niemals hätten gehalten werden können. Von
Wirtschaftschaos, steigenden Preisen und Fachkräftemangel erfuhr die Bevölkerung
erst, als es zu spät war. In der gesamten Thematik – angefangen von David
Cameron’s Einberufung des Referendums, über die darauf folgende Kampagne, bis
hin zur Durchführung – ging es immer nur um eines: Parteipolitik. Um Status und
Macht von Einzelnen. Um das Wohl des Volkes und die Zukunft des Landes hat sich
niemand geschert. Die Bevölkerung hat es nun endlich begriffen und das
Parlament sitzt in einer Zwickmühle, aus der es nur schwer – wenn überhaupt –
herauskommt.
Mehr und mehr meiner britischen Mitbürger sehen ein, dass es das Chaos, die
Unsicherheit und das Risiko nicht wert war. Ja, die EU hat ihre Schwächen. Ja,
es wäre manchmal einfacher und vielleicht auch wünschenswert, Entscheidungen
ohne Abhängigkeit von Brüssel treffen zu können. Aber die Zeiten des britischen
Empires sind vorbei, und Änderungen kann man nur bewirken, wenn man Teil des
Ganzen ist.
Die Stimmung im Land ist anders als sie es vor 3 Jahren war. Die Bevölkerung wurde durch diesen Prozess aufgerüttelt und besser informiert. Aber leider ist die Regierung von ehemaligen Elite-Schülern dominiert, die in ihrer eigenen Wolke leben und zu ihrer Wählerschaft keinen Bezug mehr haben. Das wahre Leben ist den Meisten von ihnen fremd.
Heute ist „Brexit“-Tag. Eigentlich. Und was bedeutet das für mich?
Seit über 13
Jahren lebe ich nun als Deutsche in Großbritannien, seit knapp 7 Jahren mit
einem britischen Pass. Diesen hatte ich mir damals zugelegt, weil ich meine
Zukunft hier sah, und als Steuerzahlerin wollte ich auch volles Wahlrecht
haben. Und weil Deutschland einen Zweitpass neben dem deutschen problemlos
erlaubt, solange es sich um einen EU-Pass handelt, habe ich auch gar nicht
lange gezögert – höchstens die damit verbundenen, relativ hohen Kosten haben
mich mal kurz zweifeln lassen, ob es sich überhaupt lohnt. „Ich bin doch eh
EU-Bürgerin, und somit ist so ein britischer Pass doch eigentlich gar nicht
nötig. Ein ziemlich teuer erkauftes Wahlrecht, aber mehr eben nicht“ – so
dachte man noch damals. Und damals ist gerade mal 7 Jahre her.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich nur 4 Jahre später heilfroh sein würde, dass ich mir um Aufenthaltsstatus, Arbeitserlaubnis und Gesundheitsversorgung als EU-Bürgerin keine Sorgen wuerde machen müssen. „Brexit“ hatte die Situation verändert und noch bis heute ist die Situation für viele meiner EU-Mitbürger unsicher.
Heute ist „Brexit“-Tag. Eigentlich. Und was
bedeutet das für das Verlagswesen?
Seit ich in
dieses Land gezogen bin, war ich im wissenschaftlichen Verlagswesen taetig –
ich habe mit Bibliotheken weltweit gearbeitet, für und mit großen, kleinen und
Kleinst-Verlagen, mit Organisationen rund ums Verlagswesen, Technologiefirmen
und Non-for-Profit-Organisationen. Die meisten davon sind britisch und für sie
hat der Brexit direkte Implikationen.
Vor allem im
wissenschaftlichen Verlagswesen sind die Auswirkungen immens. Durch die immer
wachsende Globalisierung von Wissenschaft beschränken sich Autoren und
Leserschaft nicht auf den englischsprachigen Markt, sondern sind international.
Natürlich spielt die EU hier eine große Rolle: nicht nur in Bezug zu Kundenbeziehung
– die Unklarheiten über Handelsabkommen, Verzollung, Mehrwertsteuer etc.
bremsen den Vertrieb und die mit dem Brexit einhergehenden Schwächung des
britischen Pfundes bedeutet direkte Umsatzverluste – aber auch, und vor allem in
Bezug zu Autoren. Ein Großteil des wissenschaftlichen Publizierens basiert auf
Forschung; Forschung, die zu großen Teilen von EU-Geldern gefördert wird. Für
britische Wissenschaftler ist es bereits seit dem Referendum 2016 schwerer
geworden, an internationalen Projekten teilzunehmen, da ihre Finanzierung
unklar war und ist. Die britische Regierung stellt nicht annähernd genug Geld
zur Verfügung, um dieses Finanzloch in Zukunft zu stopfen. Inwiefern europäische
Wissenschaftler in einem Nach-Brexit Großbritannien werden leben und arbeiten können,
ist ebenso unklar.
Copyright-Direktiven finden auf EU-Basis statt – keiner weiss, in wie weit die
erst in dieser Woche verabschiedete EU-Urheberrechtsreform in Großbritannien
greifen wird. Von einer internationalen Kooperation bei der Durchsetzung von
geistigem Eigentumsrechten außerhalb der EU ganz zu schweigen.
Die EU setzt Richtlinien – sei es im Bereich von Open Access (Plan S), der
Angleichung von Mehrwertsteuern für digitale Bücher und Zeitschriften, oder den
internationalen Markt von Online-Gütern und Datentransfer. Wenn dieses Land
kein Teil der EU mehr ist, stehen alle diese Themen in den Sternen und die
Unsicherheit, wie es in diesen Bereichen weiter gehen wird, ist in den Verlagen
deutlich zu spüren.
Heute sollten wir aus der EU austreten, hieß es. Nun also doch nicht.
Zumindest nicht heute.
Vielleicht in zwei Wochen, vielleicht in zwei Monaten, vielleicht in zwei
Jahren. Vielleicht auch nie.
Die unsägliche Art und Weise, mit der die hiesige Regierung das Thema behandelt, lässt mich sprachlos. Selten hat das Wort „Fremdschämen“ eine bessere Anwendung gefunden; und ich bin dankbar, dass ich noch diese andere – nicht-britische – Identität habe. Und dennoch lebe ich gerne in diesem Land, das ich seit 13 Jahren mein Zuhause nenne. Deutschland ist mir in dieser Zeit fremd geworden – und ist mir doch so nah.
Annika Bennett, Gold Leaf